Wien (OTS) – Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist
eindeutig: Der
ORF soll Inhalte für die gesamte Bevölkerung gestalten. Doch was
heißt das in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft immer stärker
ausdifferenziert und polarisiert? Wie können wirklich alle Gruppen –
unabhängig von Einkommen, Herkunft, Wohnort oder Alter, ob Mehrheit
oder Minderheit – angemessen vertreten und gehört werden?
Diesen Fragen widmet sich die aktuelle Public-Value-Studie „Für
alle?“. An der Untersuchung beteiligten sich neben dem ORF auch ARD,
ZDF, SRG, MDR sowie der europäische Dachverband öffentlich-
rechtlicher Medien, die EBU; der Text ist auf zukunft.ORF.at
abrufbar. Das ORF-DialogForum lud anlässlich der Studie zu einer
Diskussionsveranstaltung, die am Montag, dem 3. November 2025, um
0.10 Uhr in ORF III zu sehen und danach auf ORF ON und ORF Sound
abrufbar ist.
Olaf Jandura, Kommunikationswissenschafter an der Hochschule
Düsseldorf, eröffnet die Diskussion mit einem klaren Befund: „Ich
habe untersucht, ob die geografische Spaltung der Gesellschaft auch
in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien sichtbar
wird. Das Ergebnis: Über wohlhabende Städte wird deutlich mehr
berichtet als über ärmere ländliche Regionen. Folgerichtig nutzen
Menschen am Land den öffentlich-rechtlichen Rundfunk weniger. Wir
sehen also sowohl inhaltlich als auch in der Wahrnehmung eine
Benachteiligung. Ich plädiere für mehr Einfühlungsvermögen – wir
sollten mit der gleichen Brille auf Stadt und Land blicken.“
Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Österreich, stimmt zu und
ergänzt den Blick um eine wirtschaftliche Dimension: „Die
Haushaltseinkommen sind in Österreich relativ ähnlich, aber beim
Vermögen gibt es im Europavergleich eine enorme Ungleichheit. Und
durch die Teuerung steigt die Armut derzeit wieder deutlich an.
Armutsgefährdete Menschen erscheinen in den Medien meist in zwei
Rollen: als potenzielle Kriminelle oder als Objekte von Charity. Das
alltägliche Leben mit wenig Geld, das viele Menschen führen, kommt
viel zu selten vor.“
Josef Seethaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
knüpft daran an und betont die Verantwortung des führenden Mediums im
Land: „Armut ist kein Randthema. Der ORF hat die Aufgabe, ein Forum
zu bieten, in dem unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen
miteinander ins Gespräch kommen – und so der Polarisierung
entgegenzuwirken. Armut betrifft uns alle, sie ist stets aktuell.
Medien sollten auch die Strukturen beleuchten, die Armut
hervorbringen, und Informationen in größere Zusammenhänge einordnen.
Es braucht strukturelle Reformen im ORF, um armutsbetroffene Menschen
einzubinden – warum nicht direkt in die Programmgestaltung?“
Sandra, eine Armutsaktivistin aus Wien, bringt schließlich die
Perspektive der Betroffenen ein – und schildert dabei ein
wiederkehrendes Muster: „Zu Weihnachten wird oft der
‚Vorzeigeobdachlose‘ gezeigt, am 25. Dezember ist das Thema dann
wieder vergessen. Manchmal nehmen Medien – auch der ORF – mich wahr
und sprechen mich aktiv an. Aber ich wünsche mir eine feste
Plattform, auf der Menschen, die etwas zu sagen haben, sich
registrieren können, um mit dem ORF zusammenzuarbeiten. Wir
Armutsbetroffenen müssen sichtbar werden, damit wir für uns selbst
einstehen können.“
Kommunikationswissenschafterin Larissa Krainer von der Universität
Klagenfurt und wissenschaftliche Herausgeberin der aktuellen Public-
Value-Studie „Für alle?“ hat untersucht, ob sich die Menschen von
öffentlich-rechtlichem Rundfunk hinreichend wahrgenommen fühlen. Sie
unterstreicht: „Die Frage, wie gut öffentlich-rechtliche Sender die
Bevölkerung kennen, wird zu einer Überlebensfrage dieser Medien. Wie
können sie ihre Türen öffnen, um möglichst viele Menschen in
Programmentscheidungen einzubeziehen, damit sich tatsächlich alle
repräsentiert fühlen?“ Gerade für öffentlich-rechtliche Medien sei es
zentral zu wissen, für wen man Programm macht.
Dieser Ansicht ist auch Kollegin Fiona Fehlmann, die an der
Universität Zürich u. a. zum Thema Media Literacy forscht. Sie
kritisiert Medien für ihren Umgang mit dem Publikum und das Konzept
der Imagined Audience: „Viele Medien führen Umfragen durch und
denken, sie wüssten anschließend, was das Publikum will. Die
Herausforderung besteht jedoch darin, aus solchen Datenpunkten wieder
echte Menschen zu machen!“ Hierzu gelte es etwa, Begegnungsorte
schaffen, um den physischen Austausch zwischen Publikum und
Programmmacherinnen und Programmmachern zu ermöglichen.
Auch Autorin Daniela Brodesser sieht Handlungsbedarf in der
Berichterstattung: „Über das Thema Armut wird selten sachlich
berichtet, meist wird auf die Tränendrüse gedrückt.“ Auch die
Landbevölkerung sieht sie zumeist unterrepräsentiert. Unter anderem
deshalb sei in den vergangenen Jahren viel Misstrauen entstanden und
Polarisierung passiert. Sie glaubt: „Je mehr die Bevölkerung wieder
aktiv mitgestalten kann, desto mehr kann sich hier auch zum Positiven
verändern.“
Ö1-Redakteurin Andrea Hauer, die 2023 mit dem Journalismuspreis „von
unten“ für respektvolle und tiefgründige Armutsberichterstattung
ausgezeichnet worden ist, hat sich dem Thema in einer vielbeachteten
Ausgabe der Sendung „Moment“ gewidmet und dabei versucht, sowohl
Moralisierung als auch Kriminalisierung zu vermeiden. Sie merkt an:
„Es wird zunehmend schwierig, über bestimmte Bevölkerungsgruppen zu
berichten, weil dann andere benachteiligte Gruppen beleidigt sind,
weil sie nicht vorkommen.“ Man könne aber schon allein aus
Platzgründen nicht immer alle Themen mit einer Sendung abdecken – man
müsse daher stets mehrere ORF-Sendungen in den Blick nehmen, um das
ganze Bild zu sehen.
Moderiert wird das ORF-DialogForum von Klaus Unterberger, ORF Public
Value.
Das ORF-DialogForum ist eine Initiative des ORF, um das Gespräch mit
seinem Publikum, den österreichischen Institutionen, den
Organisationen und Gruppen der Gesellschaft zu beleben.